Die Optikerdynastie CHEVALIER


Gründerzeit und Blütejahre der Werkstatt


Nicht ohne Stolz schreibt Arthur Chevalier 1870, der letzte Spross der Familie, das Unternehmen (Maison) sei 1760, unter Ludwig XV. am Quai de l'Horloge gegründet worden. Es sei das einzige des Namens Chevalier, das vom Gründervater auf den Urenkel vererbt und weitergeführt worden sei (1870 durfte man sich wieder ungestraft auf eine Referenz aus der Adelsherrschaft aus der französischen Geschichte berufen).

 

Als Louis-Vincent Chevalier im Jahre 1760 seine bescheidene Werkstatt gründete, tat er dies an einem geschichtsträchtigen Ort: dem Quai de l'Horloge, 31. Im Schatten des früheren festungsartigen Königspalastes, dem heutigen "Palais de Justice", reihte sich Optikergeschäft an Optikergeschäft, so dass der Quai zeitweise sogar den Namen Quai des Lunettes oder Quai des Lunetiers hieß.

 

 

 

                            CHEV1

 

                                            Horizontal-Mikroskop von Chevalier, 1828 und 1829, vgl. News and Facts Nr. 4:

                                            "Ein seltenes Horizontal-Mikroskop von Chevalier".

 

 

Hier waren bereits seit dem frühen 18. Jahrhundert vorwiegend Brillenmacher (lunetiers), auch Optiker genannt, und Fabrikanten von instruments de mathématiques et de physique angesiedelt, wobei sich die beiden Branchen oft vermischten. Gleich um die Ecke, neben dem Uhrmacher

Breguet, am Place du Pont-Neuf, gab es sogar bis ins 20. Jahrhundert hinein weitere klangvolle Namen: Lerebours & Secretan und l'Ingénieur Chevallier, mit dem unsere Chevaliers keinesfalls verwechselt werden wollten.

 

Die Rückfront der Häuser des Quai de l'Horloge schaut auf die berühmte Place Dauphine, ein Ort, an dem die Zeit stehen geblieben zu sein scheint. Hier stellten Hartnack, Trécourt und Oberhäuser ihre Mikroskope her. Soweit zum historischen Umfeld.

 

 

 

Louis Vincent Chevalier (1744 - 1804)

 

Louis Vincent war also schon von Konkurrenten umgeben, als er 1760 seine Werkstatt eröffnete. Er war Spiegelmacher, Brillen-, Spielzeug- und Tandhersteller (miroitier, lunetier, bimbelotier).

 

Er produzierte und verkaufte die genannten Produkte und daneben aber auch anspruchsvollere wie Linsen, Lupen, Theatergläser und Teleskope.

Von seinen 3 Söhnen, die alle mit ihrem Vater arbeiteten, verstarben zwei frühzeitig; der ältere übernahm die väterliche Werkstatt.

 

 

Jacques Louis Vincent Chevalier (1770 - 1841)

 

Er kehrte etwa 1804, nach dem Tod seines Vaters, nach Paris zurück. Zuvor hatte er 10 Jahre als Soldat gedient.

 

Kurz nachdem er seine Werkstatt eröffnet hatte, erhielt er bereits einen Auftrag zur Herstellung von Objektiven und Okularen für 100 Teleskope der Chappe'schen Telegrafenlinie.

 

Sein guter Ruf verbreitete sich und die Zahl der Aufträge und die Anzahl seiner Arbeiter nahm zu, so dass er etwa 1805 eine neue Werkstatt am Quai de l'Horloge, 21bis eröffnete.

 

1824 stellte er der Akademie der Wissenschaften ein achromatisches Mikroskop vor, das er später - zusammen mit seinem Sohn Charles. - noch verbessern sollte. Sein Geschäft am Quai de l'Horloge trug später sogar das Schild Au Microscope Achromatique.

 

 

Charles Louis Chevalier (1804 - 1859)

 

Jacques' Louis' Vincents Sohn Charles entwickelte sich zur wichtigsten Figur der Optikerfamilie. Nach einer dreijährigen Lehre (1819 - 1821) beim Optiker Godelar (Quai de l'Horloge, 77) trat er in die väterliche Werkstatt ein, wo er die Metallteile der Instrumente herstellte.

 

Er verbesserte mit seinem Vater z.B. die Camera obscura. Geräte aus dieser Zeit sind mit Vincent et Charles Chevalier, quai de l'Horloge, 69, bezeichnet.

 

 

 

                                           HP-Chevalier-1

 

                                           Differentialthermometer nach Leslie, Signatur "Par Vincent & C. Chevalier/Quai

                                           de l´horloge N 69 Paris"; dieses Instrument wurde zwischen 1818 und 1832 hergestellt.

 

 

1832 kam es zu einer geschäftlichen Trennung von Vater und Sohn. Die Gründe bleiben unklar. Charles Chevalier ließ sich jetzt im Palais-Royal, 163 nieder, der Vater verblieb am Quai de l'Horloge, 69 bis zu seinem Tod im Jahre 1841. Nach dem Ableben des Vaters vereinte Charles die beiden Geschäfte in seinem eigenen im Palais-Royal, 158, also nur einige Läden von seiner vorigen Adresse entfernt.

 

Das Palais-Royal, gleich gegenüber dem Louvre, war genau so eine geschichtsträchtige und bekannte Stätte wie der Quai de l'Horloge. In seinen Grundzügen als Residenz des Kardinals Richelieu 1632 errichtet, wurde es 1781 stark verändert: 3 Arkadengänge mit 180 gleichen Geschäftslokalen im Erdgeschoss und Wohnungen im Obergeschoss. Diese Arkaden waren im 19. Jahrhundert ein sehr beliebter Treffpunkt der Pariser Gesellschaft, sowohl der besseren, als auch der schlechteren.

 

Täglich flanierten viele Menschen an Chevaliers Laden vorbei und sahen die diversen dort ausgestellten Waren: Theatergläser in allen erdenklichen Ausführungen, Brillen, Monokel, Barometer und Thermometer zum gepflegten Interieur der guten Gesellschaft passend, Teleskope, Stereoskope und vermutlich auch Mikroskope. An diesem damals sehr mondänen Ort war Charles, später natürlich auch Arthur, von vielen andern Luxusgeschäften umgeben: Uhrmacher, Juweliere, Herren- und Damenbekleidung, Restaurants, Optiker, Kristallwaren...

 

Die Werkstatt befand sich von 1832 - 1845 in der rue Neuve des Bons-Enfants, 1; nach 1845 in der Cour des Fontaines 1bis und 3. Beide Örtlichkeiten sind in einer Seitenstraße, gleich hinter dem Palais-Royal, nur wenige Schritte vom Laden entfernt.

 

 

 

                              
                               HP-Chevalier-2

 

                               Seltener Marine-Sextant mit der Signatur "Charles Chevalier Ingénieur Opticien/Palais

                               Royal 163 à Paris"; der Sextant wurde zwischen 1832 und 1840 hergestellt.

 

 

 

In Charles' Werkstatt hatten übrigens Ruhmkorff, Brunner (schon bei Vincent) und Nachet als Lehrlinge das Optikerhandwerk gelernt. Alle 3 wurden später bekannte Hersteller wissenschaftlicher Instrumente.

 

 

Louis Marie Arthur Chevalier (1830 - 1874), auch Dr Arthur Chevalier genannt

 

Nach dem Tod seines Vaters Charles 1859, übernahm Arthur (er hatte einen Doktortitel in Philosophie, deshalb auch Dr. Arthur Chevalier) das bekannte und florierende Geschäft und brachte es zu seinem Höhepunkt. Er modernisierte vor allem die Produktionsvorgänge, verbesserte bestehende Instrumente der Ophtalmologie und der Endoskopie. Als neue Produkte seiner Werkstatt schuf er sehr gute Öl-Immersionsobjektive.

 

1867 waren in seiner Werkstatt 15 Arbeiter beschäftigt, weitere 60 in ihrer jeweiligen Wohnung (ouvriers en chambre). Letzteres war üblich in der Pariser feinmechanischen Industrie wie auch in der Schmuck- und Textilbranche.

 

 

 

                                  HP-Chevalier-3
 

                                   Typische Signatur auf einem Mikroskop, welches ca. 1870 produziert wurde.

 

 

 

Die Firma nach Arthur Chevaliers Tod

 

Nach Arthurs Ableben 1874 firmierte die Werkstatt noch 1885 im Pariser Adressbuch unter Le Docteur Arthur Chevalier, Palais Royal, 158.

 

1902 und 1909 erscheint der Name nicht mehr in den Verzeichnissen. 1910 ist jedoch eine Maison Dr. Arthur Chevalier in der Avenue de l'Opéra mit dem Hinweis eingetragen, früher sei die Firma im Palais-Royal gewesen.

 

Marcelin (Dictionnaire des fabricants français d'instruments de mesure du XVe au XIXe siècle) ist der Ansicht, die Brüder Avizard hätten die Firma Arthur Chevalier schon 1874 gekauft und vermutlich unter dem alten prestigeträchtigen Namen weitergeführt. Ebenso hatten sie die Werkstatt des Ingénieur Chevallier 1879 gekauft und unter dem Namen "Maison de l'Ingénieur Chevallier, Avizard Frères, successeurs" betrieben wie Signaturen auf Instrumenten erkennen lassen.

 

 

 

                                                      HP-Chevalier-4
     

                                                       Bestens erhaltenes Mikroskop mit der Signatur ""Dr. Arthur                                   

                                                      Chevalier Opticien, 158, Palais-Royal, Paris".

 

 

 

Ironischerweise scheinen also die beiden Optiker Chevalier und Chevallier, die zeitlebens auf keinen Fall miteinander verwechselt werden wollten, nach ihrem Tode doch unter einem Dach vereint worden zu sein.

 


Ein letzter Katalog ist 1885, d. h. 11 Jahre nach Arthurs Tod erschienen. Er könnte jedoch auch von Avizard herausgegeben worden sein.

 

Schon seit etwa 1870 war die Familie Nachet ein führender Mikroskopehersteller geworden und hatte die Chevaliers in diesem Bereich abgelöst.

 

 

 

Das wissenschaftlich-technische Werk der Chevaliers

 

Die Chevalier'sche Signatur auf einem wissenschaftlichen Instrument des 19. Jahrhunderts war synonym mit Eleganz, hoher Qualität und letztem Standard der Entwicklung. Der Schwerpunkt der Werkstatt lag weniger im Erfinden von Neuheiten, sondern mehr in der Verbesserung und Weiterentwicklung von Bestehendem.

 

So hat Charles das achromatische Linsensystem nicht erfunden, wie vielfach geglaubt wird, sondern die Objektive nach Angaben von Selligue (1784-1845) hergestellt und 1824 das entsprechende Mikroskop vorgestellt. Auf dem Deckblatt seines Katalogs von 1860 bezeichnet er sich auch als erster Hersteller der achromatischen Mikroskope, nicht als ihr Erfinder. Erfunden hat er jedoch das Doppelobjektiv für die Photographie, eine Vakuumpumpe mit kreisförmigem, kontinuierlichem Antrieb.

 

Um 1820 verbesserten Charles und Vincent die Camera obscura, die damals von ihnen ihre typische Gestalt (Dreibeinstativ mit Zelt) erhielt. Charles baute mit Amici (1786-1863) ein Polarisationsmikroskop, stellte Spezialmikroskope zur Beobachtung chemischer Prozesse, sowie Projektionsgeräte, die das Mikroskopbild einem Auditorium zugänglich machten, her.

 

Auch auf dem Gebiet der Photographie, einem Kind des frühen 19. Jahrhunderts, sind Charles' Arbeiten bedeutend gewesen. Hier arbeitete er mit den zwei Pionieren Nièpce und Daguerre zusammen. Seine große Erfahrung in der Herstellung von optischen Systemen befähigte ihn, die Linsen in den Kameras zu verbessern. Unter anderem entwickelte er spezielle Porträt- und Landschaftsformatobjektive.

 

Im Zusammenhang mit dem Namen Chevalier denkt man vor allem an die optischen Geräte, insbesondere an Mikroskope. Weniger bekannt ist, dass die Chevaliers eigentlich alle Arten von wissenschaftlichen Instrumenten herstellten. Schon 1860 gab es 5 getrennte Kataloge: Photographie, Mikroskopie, Mathematik (= Physik), Geodäsie und Marine.

 

 

 

 

Chronologie der Anschriften

 

Adresse Person Zeitraum
Quai de l'Horloge, 31 Louis Vincent 1765 - 1800
Quai de l'Horloge, 21bis Jacques Louis Vincent 1805 - 1810
Quai de l'Horloge, 67 Jacques Louis Vincent 1810 - 1818
Quai de l'Horloge, 69 Jacques Louis Vincent und Charles Louis
1818 - 1832
Quai de l'Horloge, 69
Jacques Louis Vincent allein
1832 - 1841
Palais-Royal, 163 Charles Louis allein 1832 - 1840
Palais-Royal, 158 Charles Louis allein 1840 - 1848
Palais-National, 158* Charles Louis mit Sohn Louis Marie Arthur 1848 - 1851
Palais-Royal, 158 Charles Louis mit Sohn Louis Marie Arthur 1851 - 1859
Palais-Royal, 158 Louis Marie Arthur allein 1859 - 1874
Palais-Royal, 158 Arthur nennt sich nun Dr. Arthur Chevalier ca. ab 1870
Palais-Royal, 158 Dr. Arthur Chevalier (seine Nachfolger) 1874 - 1885

 

* Das Palais-Royal wurde nach der Revolution von 1848 in Palais-National umbenannt, erhielt aber 1851 seinen ursprünglichen Namen zurück.

 

G. T.

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